Mit spitzer Feder …
Ein BH gehört für die meisten Frauen so selbstverständlich in den Kleiderschrank wie Socken. Keine Frage – so scheint es für viele: Verlässt frau das Haus, geht zur Arbeit, trägt sie einen Büstenhalter. Doch, dass das ganz und gar nicht selbstverständlich so sein muss, wurde schon vor Jahrzehnten diskutiert. Damals wurde das Kleidungsstück von Feministinnen infrage gestellt – als Symbol der Unterdrückung und Fremdbestimmung. Und auch heute setzen einige Frauen wieder auf Verzicht – doch diese Entscheidung wird auch heute noch nicht als selbstverständlich akzeptiert. So hat beispielsweise Jan Birkin schon immer auf einen BH verzichtet, Kate Moss ebenfalls – und ich erst recht. Mit 14 Jahr probierte ich den ersten Bügel-BH und beschloss – kaum hatte ich die Häkchen hinten geschlossen – das tue ich mir nicht an. Ich brauche keinen BH – für was auch. Bis heute bevorzuge ich einen elastische, weichen, angenehm tragbaren Body. Doch wie meine Recherche im Freundinnen-Kreis zeigt, haben nur wenige den Mut, ohne das lästige Ding aus dem Haus zu gehen. Der gesellschaftliche Druck scheint das weibliche Geschlecht immer noch fest im Griff zu haben. Oder doch nicht? Im Homeoffice verzichtet frau in der Regel auf die Business-Garderobe. Manche Frauen lassen dann auch den BH weg. Ist der BH ein heimliches Corona-Opfer? Im Netz wimmelt es von Frauen, die von ihren Oben-ohne-Selbstversuchen erzählen – und das nicht erst seit Corona. Schon in Prä-Corona-Zeiten ist die Haltung vieler Frauen, das Häkchen am Rücken zu ertasten und sich zu befreien.
Stellt sich die Frage, warum Frauen überhaupt einen Büstenhalter tragen. Die Antwort darauf ist, wie so oft, wenn es um den weiblichen Körper geht, simpel: Weil irgendwann bestimmt worden ist, dass sich das so gehört. Dass eine anständige Frau nicht ohne aus dem Haus geht, weil das sonst unzüchtig ist. Der BH dient demselben Zweck wie sein Vorläufer: Die weibliche Brust soll damit zwar präsentiert werden, aber nicht so, wie sie von Natur aus aussieht. Heisst: sie soll nicht wackeln. Sie soll keinesfalls den Eindruck erwecken, über Nippel zu verfügen. Und sie soll um Himmelswillen nicht tropfenförmig daherkommen, sondern gefälligst in präsentabler Position geradeaus gucken oder gar in die Höhe streben. Also wurde der Busen gehoben und gepusht und gequetscht. Das klingt so unbequem wie es ist: Träger schneiden ein, Bügel stechen in Rippen, Schalen drücken, Spitzenverzierungen jucken – die Brust wird dressiert, getrimmt und gequält.
Viele Frauen haben ganz offenbar keine Lust mehr, sich rüstungsartige Gebilde um die Brust umzuschnallen. Es steht ihnen viel mehr der Sinn nach Weichheit, nach einer sanften Umarmung, eigentlich nach einem liebe- und respektvollen Umgang mit ihren Brüsten. Still und leise hat sich der Soft-BH und die Bralettes an die Spitze der Beliebtheitsskala gedrängt – Modelle ohne Wattierung und Bügel, sogar ohne Häkchen und Nähte. Es entwickelt sich ein neues Körperbewusstsein – endlich! Endlich haben die Frauen und wohl allmählich auch die (Konsum)gesellschaft erkannt, dass der ganze Aufwand und die Plackerei letztlich unnötig sind. Aus medizinischer Sicht gibt es keinen Grund, einen BH zu tragen. Wie auch eine Studie von Professor Jean-Denis Rouillon vom Universitätsklinikum im französischen Besançon zeigt. Er hat bei über 300 Teilnehmerinnen die Auswirkungen einer BH-befreiten Brust untersucht. Auch er kam zu dem Schluss, dass ein BH nur hinderlich wirke und es für die Frau gesünder sei, keinen zu tragen. Auch ohne BH erschlaffen die Brüste bei den meisten Frauen nicht, das Muskelgewebe wurde sogar fester, die Trägerinnen hatten keine Rückenschmerzen mehr und bekamen besser Luft. Kurzum: Das Gesündeste scheint ein BH nicht zu sein. Ob Brüste nun schneller oder weniger schnell der Schwerkraft zum Opfer fallen, wenn sie eingepackt sind oder eben gerade nicht, ist völlig unklar. Es scheint eine Frage der Gene zu sein, ob und wie schnell die Brüste der Gravitation anheimfallen. Eine Frage des persönlichen Geschmacks und der Beschaffenheit der Brüste wieder ist es, ob es frau nun wohler ist mit oder ohne Büstenhalter. Für mich jedenfalls, war immer klar, dass ich frei über meinen Körper entscheide und immer die Freiheit wähle, auch beim BH-Tragen.
Herzlichst,
Ihre Corinne Remund
Verlagsredaktorin