ÖV – Spiegel unserer Rücksichtslosigkeit!

    KOLUMNE:


    Jugend von heute

    ÖV. Ein massgeblicher Bestandteil unserer Schweizer Gesellschaft. Ob zur Arbeit, zur Schule, zum Sport oder in den Ausgang – der ÖV bringt uns überall hin, meistens auf die Minute genau wie das Schweizer Uhrwerk. Doch sind wir ehrlich, die wenigsten fahren gerne ÖV, niemand ist freiwillig dort. Die meisten SchweizerInnen sind aufgrund nachhaltiger, finanzieller oder praktischer Vorteile auf den ÖV angewiesen. Sie verbringen dort mehrere Stunden pro Woche. Nehmen wir an, dass wir durchschnittlich ca. 40min jeden Tag im ÖV sind. Das wären in einer 5-Tage-Woche, mit 143 Ferien/Wochenend-Tagen Abzug, summiert: 8880min, umgerechnet 148h. Also 6.1 Tage pro Jahr. Knapp eine Woche verbringen wir pro Jahr im ÖV mit anderen Menschen. Eine Woche, die man als Kind früher im Jubla Lager oder in Sportlagern verbrachte. Zusammengewürfelt mit teilweise fremden Kinder. Man begegnete sich: rücksichtsvoll, zuvorkommend, kooperativ.


    «Am meisten über einen Menschen sagt nicht aus, wie er mit Freunden umgeht, sondern mit Fremden.» – Dante Alighieri


    Im Gegenteil zu dieser Kultur hat sich im ÖV eine andere eingebürgert. Achten Sie sich das nächste Mal, wenn Sie in einen Bus einsteigen. Garantiert sitzt die Hälfte der Passagiere entweder auf dem äusseren Platz oder die Tasche ist auf diesem Sitz platziert. Auch wenn nur die Hälfte der Plätze effektiv besetzt ist, bleibt für Zugestiegene trotzdem kein freier Platz mehr übrig. Für diese gilt nämlich: Wer sitzen will, muss fragen und auch dann wird manchmal ungern Platz gemacht. Ich würde lügen, wenn ich nicht zugeben würde, dass ich mich nicht auch schon ertappt habe, den Platz neben mir zu besetzen. Doch diese Angewohnheit ist nicht nur auf die junge Generation zurückzuführen. Es ist ein generationenübergreifendes Problem. Vor allem durch Corona wurde dieses Phänomen meines Erachtens noch verstärkt. Dazumal wurde der Sicherheitsabstand sklavisch eingehalten und diese Kultur so gerechtfertigt. Nun sind wir wieder in der Normalität ohne Sicherheitsvorkehrungen, ohne Masken. Es gibt keinen Grund, der als Ausrede dienen könnte. Das gesamthafte Auftreten im ÖV ist zum Spiegel unserer Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen geworden. Es gibt immer wieder Fahrgäste, die Musik hören, sich im ÖV schminken, ihre Schuhe ausziehen, geruchsintensive Mahlzeiten essen oder laut telefonieren. Entweder fühlt man sich zu wohl und behandelt den ÖV wie sein 2. Zuhause oder der ÖV verwandelt sich, im übertragenen Sinne, in eine «Gefängniszelle», in der man den Kontakt zu den anderen Passagieren auf das Wenigste minimieren möchte und nicht einmal neben Fremden sitzen kann. Eine Grauzone gibt es in vielen Fällen nicht. Diese Kolumne liefert hier leider keine allumfassend gültige Antwort darauf, weshalb wir dies machen, und um dies geht es hier auch gar nicht. Man sollte sich lediglich über sein eigenes Handeln bewusst werden und merken, welche Konsequenzen es mit sich zieht.

    Immer mehr hat sich das Denken «Ich-sehe-die-Person-sowieso-nicht-mehr» breit gemacht. Zwar dient dies als eine Art Rettungsring beim Verlassen seiner Komfortzone, mit dem man versucht, seiner Unsicherheit den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die Grenze zwischen Selbstbewusstsein und Egoismus ist jedoch sehr schmal. Nur weil man für sich selbst in der Öffentlichkeit einsteht, heisst es nicht, dass die Bedürfnisse der Mitmenschen minder sind und ignoriert werden dürfen. Selbstbewusst gleich rücksichtsvoll.

    Klar, finde ich auch, dass es bequemer ist, meine Tasche auf den anderen Platz zu legen. Sobald aber mehr Fahrgäste einsteigen, sollte es sich einbürgern, diesen wieder freizumachen, ohne dass ein anderer fragen muss, ob man rutschen kann. Denn ich glaube, wir sind uns alle einig: Niemand steht gerne im Bus. Auch Fremde, die für immer Fremde bleiben, sind ein Teil unseres Lebens. Genau deswegen sollten wir sie auch wie unser eigenes Umfeld behandeln: Rücksichtsvoll, zuvorkommend, kooperativ.

    Herzlichst
    Lilly Rüdel

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